Scharrbilder von Nazca

Scharrbilder von Nazca
Scharrbilder von Nazca
 
In einem kulturellen Kontinuum ging ab etwa 200 n. Chr. die Kultur von Paracas in jene von Nazca an der südlichen Küste Perus über. Ihr namengebendes Zentrum lag im Flusssystem des Río Grande de Nazca, ihr Verbreitungsgebiet erstreckte sich jedoch bis zum Río Chincha im Norden und bis zum Acarital im Süden. Die Menschen von Nazca errichteten bereits größere Siedlungen von stadtähnlichem Charakter wie die (Ruinen-)Stadt Cahuachi mit Wohn- und Lagerhäusern, Höfen, Plätzen und Tempelanlagen, deren Fassaden mit Adobeziegeln verkleidet sind. Großartige Bewässerungsanlagen mit Aquädukten, Kanälen, Wasserreservoirs und insbesondere unterirdischen Tunnelkanälen — Letztere einzigartig im voreuropäischen Amerika — zeugen von den hoch differenzierten technischen Fähigkeiten. Weitere Hinterlassenschaften der Nazca-Kultur enstammen, wie in der Paracas-Kultur, einem ausgeprägten Totenkult. Unter den zahlreichen Beigaben zählen einerseits die mehrfarbigen Tongefäße mit Darstellungen aus dem Alltag und aus dem mythisch-religiösen Bereich, andererseits die Textilien - hier sind es Wirkereien, Doppelgewebe und broschierte Gewebe, bemalte und mit Federn applizierte Stoffe - zu den kostbarsten Erzeugnissen der Nazca-Künstler.
 
Keine Schöpfung der Nazca-Kultur aber hat in jüngster Vergangenheit eine derartige Berühmtheit erlangt wie die Scharrbilder in der Ebene zwischen Nazca und Palpa. Die in die Landschaft »eingravierten« Scharrbilder mit Ausmaßen von vielen Kilometern Länge sind nur aus großer Höhe zu erkennen. Dies hat zu den gewagtesten Hypothesen und absurdesten Erklärungsversuchen über ihre Urheber, die Zeit ihrer Entstehung und ihre Herstellung selbst geführt. Es besteht aber heute kein Zweifel mehr darüber, dass diese Geoglyphen von den Trägern der Nazca-Kultur geschaffen wurden. Ihrer Form nach lassen sie sich in zwei Gruppen einteilen: die 300 geometrischen Figuren, vor allem Trapeze, Dreiecke, Spiralen, Zacken, mit ihren schnurgeraden, bis zu 20 km langen Linien; insgesamt erstrecken sich diese geometrischen Scharrbilder auf einer Länge von 1300 km. Die zweite Gruppe umfasst Darstellungen von Menschen und am häufigsten von Tieren (Vögeln, Fischen, Affen, Spinnen) sowie einigen Pflanzen, die bis über 300 m Länge erreichen. Einige der dargestellten Tierfiguren sind auch in den Nazca-Keramiken wiedergegeben; ebenso fand man viele Tongefäße des typischen Nazca-Stils im Gebiet der Scharrbilder. Und auch der zeitliche Rahmen der Nazca-Kultur (200 bis 600 n. Chr.) wird durch moderne Methoden der Altersbestimmung (so zum Beispiel ein C-14-Datum von einem Holzpfosten aus dem Gebiet der Erdzeichen) bestätigt.
 
Zur Herstellung der Scharrbilder war keine hoch entwickelte Technologie nötig. Mithilfe von einfachen, maßstabgetreuen Modellen wurden die Figuren in den Sand gescharrt. Man entfernte die eisenoxidbraunen kleinen Steine der obersten Bodenschicht, wodurch der gelbliche, scharf von der Umgebung abgehobene Untergrund erschien. Da es in dieser Region (fast) nie regnet, blieben die Erdzeichen bis heute erhalten. Bedeutung und Funktion der Scharrbilder aber sind bis heute ungeklärt; vielleicht waren verschiedene Motive ausschlaggebend. Es gibt einige seriöse Deutungsversuche, denen jedoch generell der Mangel anhaftet, dass sie nur auf einen Teil der Erdzeichen zutreffen und nicht für alle plausibel klingen: Demnach galten sie rituellen, magischen Zwecken, insbesondere zur Erntesicherung; oder sie sollen astronomischen Berechnungen des Kalenders gedient haben und Sternbilder darstellen; anderen Interpretationen zufolge markierten sie Wasservorräte; wiederum anderen Deutungen gemäß waren sie rituelle Pfade und Wege, die mit dem Zentrum der Nazca-Kultur in Verbindung standen. All diese Erklärungen zusammen kommen vielleicht der Wahrheit am nächsten, sodass die Erdzeichen wahrscheinlich mehrfache Funktionen erfüllten, indem sie als Markierungen mit dem Himmel, dem Wasser und dem Boden in ritueller und übernatürlicher Verbindung standen.
 
Bleibt noch die immer gestellte Frage offen, warum sich die Nazca-Menschen derartigen Anstrengungen unterzogen, wenn sie selbst die Zeichen und hier insbesondere die Figuren wegen ihrer enormen Ausmaße nicht sehen konnten. Dem kann man nur entgegenhalten, dass dem Menschen keine Mühe jemals zu groß war, um den Göttern oder dem einen Gott oder der Transzendenz »gerecht« zu werden. Auch die Türme der gotischen Kathedralen sind bis zur Spitze perfekt ausgeführt, obwohl niemand vom Erdboden aus diese Perfektion wahrnehmen kann. Vielleicht genügte es aber auch, wenn die Nazca-Schamanen während ihrer Trancezustände »im Flug« die Figuren oder Abbildungen der Gottheiten wahrnehmen konnten.
 
Dr. Peter Kann
 
 
Alcina Franch, José: Die Kunst des alten Amerika. Aus dem Französischen. Freiburg im Breisgau u. a. 21982.
 
Die Indianer. Kulturen und Geschichte, Band 2: Münzel, Mark: Mittel- und Südamerika. Von Yucatán bis Feuerland. München 51992.
 Lavallée, Danièle und Lumbrerars, Luis Guillermo: Die Andenvölker. Von den frühen Kulturen bis zu den Inka. Aus dem Französischen und Spanischen. München 1986.

Universal-Lexikon. 2012.

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